Die Linke muss nach rasantem Wachstum politische Bildung in den Mittelpunkt stellen

Gegen den gesellschaftlichen Rechtstrend erfährt Die Linke ein erstaunliches und überaus erfreuliches Mitgliederwachstum. Das Wachstum vor dem Hintergrund einer komplexen politischen Lage macht politische Bildung dringend nötig.

Nach den Gewalttaten in Magdeburg und Aschaffenburg wurden ganz erwartbar die Stimmen laut, die nach Sicherheit, Ordnung, Repression, Einschränkung von Asylrecht usw. riefen. Für Linke das undankbarste Thema überhaupt. Denn die Antworten auf solche Wahnsinnstaten sind kompliziert, und Stichworte wie „psychosoziale Betreuung“ verhallen, wenn Rechte auf wütende Emotionen setzen – und die Medien diese auch noch reproduzieren.

Doch Merz’ kalkuliertes Einschlagen der „Brandmauer“ rief eine unkalkulierte Reaktion hervor: Den wütenden Massenprotest von Hunderttausenden. Dabei ist übrigens bemerkenswert, dass unter den Demonstrant*innen auch viele CDU-Wähler*innen sind. Im Vergleich zur antifaschistischen Massenbewegung gegen die „Remigrations“-Pläne der AfD im letzten Jahr ist die aktuelle Bewegung politisierter. Das hat natürlich mit dem Wahlkampf zu tun und damit, dass es nicht nur gegen die AfD, sondern auch gegen die Union geht  – aber auch wenn auch heute Grüne und SPD versuchen, von der Empörung gegen die CDU zu profitieren, fällt auf, dass es vor allem Die Linke zu sein scheint, die aus der Bewegung heraus aufbauen kann und eine ungeahnte Dynamik erfährt.

Innerhalb von zwei Wochen hat Die Linke 11.000 Mitglieder gewonnen. Hatte die Partei Ende 2023, nachdem Wagenknecht die Partei spaltete, noch 50.251 Mitglieder, sind es heute 71.277 – das ist eine Steigerung von 41 Prozent! Der willkommene Mitgliederzuwachs hilft nicht nur im Wahlkampf. Er ist auch Ausdruck davon, dass es ein Bedürfnis gibt, sich zu organisieren. Ist die Bewegung eher kurzfristiger Natur, ist die Mitgliedschaft von größerer Dauer. Die parteiliche Organisierung ist eine politische Kristallisierung der Bewegung.

Die Strukturen der Linken müssen politisiert werden

Der Linken kommt damit eine große Verantwortung zu. In vielen Orten müssen Strukturen ganz neu aufgebaut werden. Und, so ehrlich muss man sein, besonders sexy waren die Strukturen der Partei bisher nicht. Die Tagesordnungen von Kreismitgliederversammlungen sind oft formalistisch. Es werden Vorstände und Delegierte gewählt, Anträge beschlossen, im besten Fall einige Aktivitäten geplant, aber viel zu wenig über Politik diskutiert. Das wird in Zukunft aber eine Schlüsselaufgabe.

Denn die neuen (und auch sehr viele langjährige) Mitglieder haben Lust auf inhaltliche Diskussionen, politische Schulung, Argumente gegen Rechts, aber auch Antworten auf noch kompliziertere Fragen: Wie funktioniert das kapitalistische Wirtschaftssystem, wie sehen Alternativen aus? Aus welchen Kämpfen in der langen Geschichte der Arbeiter*innenbewegung können wir heute welche Lehren ziehen? Was steckt hinter den geopolitischen Verwerfungen, die die Politik bestimmen, was sind linke Antworten auf Kriege im Allgemeinen und die aktuellen bewaffneten Konflikte im Besonderen? Häufig begegnet man in der Partei der Sorge, dass die Diskussion um diese Fragen die Partei zerreißen könne. Das “auf die lange Bank schieben” wird die nötigen Konflikte aber nur in die Zukunft verschieben, wenn sie noch brutaler auf die Tagesordnung kommen. Es geht nicht darum, mit der Brechstange Mehrheitsbeschlüsse auf Parteitagen zu den polarisierenden Fragen herbeizuführen, sondern darum, strategischen Fragen politischen Raum zu geben. Diese Fragen (egal ob Gaza oder Waffenlieferungen an die Ukraine oder mit wem wir zusammenarbeiten im Kampf gegen Rechts) stellen sich nicht nur für die Partei, sondern für sehr viele Menschen weit über die (organisierte) Linke hinaus.

A propos organisierte Linke: Es gibt unzählige linksradikale Kleingruppen in Deutschland, die einen sehr großen Wert auf politische Bildung legen. Jede Woche gibt es in den meist spärlich besuchten Plena dieser Gruppen interessante Referate und Diskussionen über die Weltlage. Der große Stellenwert, den diese Theoriearbeit oder auch nur die exakte Ausdifferenzierung der eigenen „Linie“ gegenüber anderen Strömungen hat, wird zur Hypothek, wenn sie gesellschaftlich isoliert bleibt. Es ist ein Irrsinn: Der Theoriereichtum von politisch irrelevanten Grüppchen, die darum kämpfen, im Jahr ein Dutzend Mitglieder zu gewinnen, steht im absoluten Kontrast zur Theoriearmut einer Linken Partei, die in kürzester Zeit zehntausende Mitglieder gewinnt. 

Umso bitterer, wenn die Mitglieder der kleinen Kaderorganisationen unter sich bleiben und Die Linke „rechts liegenlassen“. Das gilt im Übrigen auch für meine ehemalige Organisation, in der ich lange vergeblich dafür gekämpft habe, entschlossen in eine wachsende und dynamische Linke Partei einzugreifen. Immerhin sind dabei ein paar Analysen und Parteitagsberichte herausgekommen – aber wenn revolutionäre Gruppen ihre politischen Talente, guten Ideen und Erfahrungen von praktischer Kampagnenarbeit außerhalb von Wahlkämpfen in die Partei und ihren Aufbau eingebracht hätten, hätten sie jetzt vielleicht einen größeren Hebel in der Hand, oder zumindest ein größeres Publikum für ihre Ideen. Ob aus Verschlafenheit oder Sektierertum: Die Grüppchen, die bei aller Bemühung um Einfluss in der Arbeiter*innenbewegung Die Linke mehr oder weniger ignorieren, müssen darüber diskutieren, ob ihre Distanz zur Linken wegen ihres Reformismus, der Parlamentsfixiertheit oder ihrer bürokratischen Strukturen nicht zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird.

Der fehlende Erfolg von linksradikalen Gruppen und Grüppchen, die neben Kampagnenarbeit auch viel inhaltliche Arbeit machen, spricht nur gegen den zum Teil selbstgewählten Isolationismus, nicht aber gegen das Konzept einer Partei, die um inhaltliche Klarheit kämpft. Die Auseinandersetzung mit Ideologie hat keinen geringeren Stellenwert als der Aufbau von Strukturen – im Gegenteil. 

Kampf der Ideen um die Köpfe

Ideologie im Sinne von „falsches Bewusstsein“ ist eine der tragenden Säulen der bürgerlichen Herrschaft. Egal ob ein Kalenderspruch wie „Sei du selbst die Veränderung, die du dir für diese Welt wünschst“ oder voluntaristische Konzepte wie Konsumkritik, Zustimmung zum neuen Militarismus oder die Schuldmachung von Migrant*innen für Wohnungsnot, Niedriglohn oder die brutalen Auswirkungen einer Ellenbogengesellschaft für die individuelle Sicherheit – all das sind verschiedene Auswüchse der Ideologie, die das Bewusstsein der Menschen in dieser Gesellschaft prägen.

Für die, die im Wahlkampf überzeugt werden wollen, genauso wie für die, die im Wahlkampf überzeugen wollen, gilt: Es braucht die Bewaffnung mit Ideen, Argumenten und Wissen, um der vorherrschenden Ideologie etwas entgegensetzen zu können. 

Die erfrischende Medienarbeit der Linken im Wahlkampf, die Heidi Reichinnek zur „Social-Media-Queen“ gemacht hat, ist ein guter Anfang, um linke Ideen zu verbreiten. Es braucht aber mehr. Die Wissensvermittlung nach außen kann nur funktionieren, wenn es auch eine dementsprechende Wissensvermittlung nach innen gibt. 

Gerade für eine politische Partei, die gerade ihr Potenzial zeigt, mehr als eine kleine Schicht der Arbeiter*innenklasse zu organisieren, ist politische Konsolidierung notwendig. Konsolidierung heißt, die gemachten Fortschritte zu sichern, Mitglieder zu schulen, sich zu einigen wo es geht und weiter zu diskutieren wo es nötig ist. Ergebnis ist eine größere politische Klarheit und damit auch eine größere Einigkeit. Für die in den letzten Jahren von Streit gebeutelte Partei wäre das ein hehres Ziel.

Die zehntausenden Neumitglieder der Linken sind eine enorme Chance. Sie bringen frischen Wind und Schwung in die Partei. Diese Chance muss genutzt werden. Es ist eine Fehleinschätzung, dass ein großer Schwung von Mitgliedern automatisch heißt, dass die Partei politisch schwächer wird. Viele der Neumitglieder sind weiter als viele der Altmitglieder, haben radikalere Ideen, wissen besser über die Bedeutung spezifischer Unterdrückung, die existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel, die Notwendigkeit von konsequentem Internationalismus. Politische Bildung heißt nicht: „die Alten erklären den Jungen die Welt“; sondern dass man sich gegenseitig schlauer macht. Und dass man sich schlauer macht, ist angesichts des Irrsinns der Welt dringend nötig.

Klar, jetzt ist erstmal Wahlkampf, und die Partei muss alles in die Waagschale werfen, um ein gutes Ergebnis zu bekommen, weil eine fehlende Linke im Bundestag auch dem diskursiven Rechtsruck weniger entgegensetzen können wird. Den Wahlkampf darüber hinaus damit zu verbinden, offensiv Mitglieder zu gewinnen, ist genau richtig. Das kann dazu beitragen, dass Die Linke nach der Wahl auch außerhalb von Parlamenten eine Rolle spielen kann, um rechte Ideen zurückzudrängen. 

Der rasanten Aufbauphase in dieser Bewegung und dem Wahlkampf muss eine Konsolidierungsphase folgen. Wenn Die Linke nicht auf Sand bauen will, muss sie in politische Bildung und Diskussionen investieren. Jedes Treffen muss von einer strukturierten politischen Diskussion eingeleitet werden. Jede neue politische Entwicklung muss auf jeder Ebene besprochen werden. Dabei können auch die strittigen Fragen – wie die von Krieg und Frieden – nicht ausgelassen werden. Vor den politischen Herausforderungen unserer Zeit gibt es ohnehin kein Entkommen. Sie bieten aber auch eine Menge potenzieller Lehren. Die Diskussion darüber könnte die Partei nach ihrer quantitativen Stärkung auch qualitativ voranbringen.

Kommentare

2 Antworten zu „Die Linke muss nach rasantem Wachstum politische Bildung in den Mittelpunkt stellen“

  1. Avatar von Nobby
    Nobby

    Danke Seba, ein ganz ganz toller und wichtiger Text. Wenn man mit so vielen Neuene und begeisterten Menschen zusammensitzt, dann nimmt man sich auch erstmal zurück mit iegenen Positionierungen zugunsten des tieferen Auslotens des spezifischen Themas .. Es ist irre, als LV 50 Leute am Tag hinzuzugewinnen .. rechne das mal hoch 😮

  2. Avatar von Conny Hildebrandt
    Conny Hildebrandt

    Lieber Sebastian,
    Ein Text voller Begeisterung und Energy, der die Stimmung der Linken derzeit aufgreift. Nur eine Frage und zwei Anmerkungen. Ich wäre ja dafür, den kleinen, sich selbst isolierenden Theoriegrüppchenen bei neuen Aufbrüchen zu unterstützen, aber ist deren politisch irrelevanter Theoriereichtum nicht Teil des Problems? Ich kenn mich da nicht aus deshalb die Frage.
    Dann denke ich, dass die Organisationsfrage wird immer wieder unterschätzt wird. Für die Linkspartei gilt dies leider seit 2011. Die Versuche von Parteireform oder Parteientwicklung wurden kaum ernst angegangen und zu oft abgebrochen. Der Plan LINKE 2025 war gerade mal eine Roadmap, also nicht ernst gemeint.D.h. ich würde es schon begrüßen, die Zahl der vielen Neumitglieder zu nutzen für einen Neustart zur Entwicklung der Organisation, auch, um die von Dir völlig zu recht geforderte Konsolidierung zu ermöglichen!!!!! Und bitte kein Bashing von Altmitgliedern. Nicht jede/jeder Neue bringt gleichermaßen Erfahrung oder politisches Wissen mit, sowenig wie Altmitglieder per se die besten Fürsprecher ihrer Parteien sind.

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